Das Ding II: Odradek

Ich möchte das Thema „Ding“ vom Mitmachblog  in dieser Woche teils ernst, teils scherzhaft umkreisen. Es ist ein ungeheuer wichtiges Thema. Die „Verdinglichung“, die für Karl Marx das Kernstück seines Leidens an den kapitalistischen Verhältnissen war – sie hat inzwischen enorme Ausmaße angenommen.

Mir scheint, Franz Kafka hat mit der Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ eine Parabel für diesen Verdinglichungsprozess geschrieben. Odradek – das sinnlose Ding, das zum handelnden Subjekt wird und den Hausvater vermutlich überleben wird.

Im Netz findest du eine Menge Versuche, dieses Ding Odradek zu zeichnen.

Ich beschränke mich hier auf eine Legearbeit: Der fragenden Mensch sucht die Pythia auf, die bei all der Fragerei nach Sinn und Zweck schon selbst zum Fragezeichen geworden ist. Und blind ist sie leider auch.

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Franz Kafka, Die Sorge des Hausvaters

Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.

Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.

Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.

Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. »Wie heißt du denn?« fragt man ihn. »Odradek«, sagt er. »Und wo wohnst du?« »Unbestimmter Wohnsitz«, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.

Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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15 Antworten zu Das Ding II: Odradek

  1. gkazakou schreibt:

    Hat dies auf MitmachBlog rebloggt.

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  2. bruni8wortbehagen schreibt:

    Odradek, eine Kafka-Erzählung? Verbüffend, dieser Odradek. Eine Fantasie, die sich mit dem Unsinnigen und doch real Vorhandenen unterhält, ganz kurz, fast höflichskeitshalber.
    Ein Ding, das existiert, aber aus was und wieso? Ein Ding, das es schon lange gab, bevor es sich zu erkennen gab und nun turnt es herum oder steht still an einer Stelle.

    Fast habe ich ein wenig Mitleid mit dem Odradek-Ding, das aus zerschlissenem Leben zu bestehen scheint.

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  3. bruni8wortbehagen schreibt:

    Deine Legearbeit mit der Person der Pytia, die schon selbst wie ein Fragezeichen wirkt , ein pechschwarzes – toll, liebe Gerda

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    • bruni8wortbehagen schreibt:

      ich hab mir alles durchgelesen, liebe gerda, und danke dir für die guten erklärungen, die wundervoll ausführlich eine ERklärung bieten, an die ich nie im Leben gedacht hätte, aber es klingt sehr einleuchtend, was ich von Dir lese

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      • gkazakou schreibt:

        Vielen Dank, Bruni. Die Erklärungen bleiben Spekulation. Die Erzählung selbst entfaltet immer wieder ihre in ihr liegenden Kräfte neu – das ist die Eigenschaft hoher Kunst, ob Poesie, Malerei oder Musik.

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  4. Ulli schreibt:

    Du führst mich wieder einmal zu etwas Unbekanntem, Odradek… ein Name, der vor mir eine Gestalt wachsen lässt, aber durch Kafka selbst eine bestimmte bekommt, die aber auch nicht ganz zu fassen ist, wie so oft bei Kafka…
    deine Legearbeit dazu ist spannend. Ich denke auch an die vielen Fragen, die wir Menschen ganz unsinniger Weise stellen, die wir nicht im Wort beantwortet bekommen können, nur durch das Leben selbst und die eigene Erfahrung!
    liebe Grüsse
    Ulli

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    • gkazakou schreibt:

      Kafka ist eine andere Pythia mit rätselhaften Sprüchen. Ein sehr merkwürdiger Geselle, dieser Odradek, nicht wahr? Viele Menschen haben versucht, seine Gestalt und sein Wesen zu deuten. Aber am Ende konnten sie nicht mal wegen der Namensherkunft schlüssig werden. Die Deutungsversuche haben es an sich, dem wunderbaren Text die Poesie auszutreiben. Sie rebbeln ihn auf.
      Als Assoziationen lasse ich sie dennoch gelten, sie machen nachdenklich.

      Der Name: ein halbierter Dodekaeder. Der Judenstern hat sechs Ecken.
      Stern und Kreuz bilden die zwei Beinchen.des Dings.
      Um das Ding herumgewickelt sind allerlei abgerissene, verknotete, ineinander verfilzte Zwirnsfäden – das jüdisch-christliche Lebens- und Glaubensgemenge (wie in Kafkas Prag)

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      • gkazakou schreibt:

        richtiger wäre: ein zum Sechsstern verstümmelter Dodekaeder (Zwölfstern) und ein verstümmeltes Kreuz. Die sind zu diesem Unding zusammengewachsen und treiben nun mit nachhängendem Zwirnsfaden ihren Schabernack auf des Hausvaters Treppe. Wer weiß, vielleicht charakterisiert Kafka hier sich selbst? (aus der Sicht des Vaters)

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      • bruni8wortbehagen schreibt:

        eine Sicht auf sich selbst, ein verstummeltes Menschendings, nichts Ganzes und schon gar nichts Halbes und weniger auf keinenFall …
        Wer weiß, was sein Unterbewußtes ihm eingab und er schrieb es nieder, schreib es auf, klang es ihn ihm…

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  5. dergl schreibt:

    Meine Raben und ich lieben das Odradek. Bei uns wohnt ja Verwandte Odranek (musst du mal bei mir in die Suchfunktion eingeben), hat Enno gebaut.

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  6. irazall schreibt:

    Klingt interessant. Letztlich wohl aber einfach nur wieder ein verarbeiteter Konflikt mit dem Vater….

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