Johns psychedelische Reise II (geschichtengenerator, Fortsetzung)

Vor einem der sieben Tore von Theben.

John ist Eteokles. Was bedeutet es, Eteokles zu sein?

Genealogical_tree_of_Antigone_(Ödipus).svgEs bedeutet:  Du bist das Kind einer blutschänderischen Beziehung. Du bist verdammt. Du wirst deinen Bruder erschlagen, und er erschlägt dich.

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John sitzt an dem Platz, an dem einst Ödipus saß, und versucht zu begreifen, was er hier sucht. Aus den Untergründen seiner Seele steigt herauf das Gesäusel eines Winds. Er meint eine Rede zu verstehen, die sich auf ihn bezieht. Wieso auf mich, gerade auf mich, an diesem Ort.

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Ihm gegenüber hockt die Sphinx, die öffnet den Mund und spricht :

Ich bin Luise, du kennst mich. Du hast mich erschlagen, dort zwischen den Güterwaggons.

Güterwaggons? Hab ich das? Warum denn wohl? Ich entsinne mich nicht.

Geh in dich, Johann, da gibt es ein Bild, das willst du erschaffen. Ausgemergelte Gesichter, klaffende Wunden, geöffnet der Leib, die Seele ein Vogel, den du einfängst. Erinnerst du dich?

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Der Vogel ist gelb. Gelb sein Gesicht, sein Gefieder.

Ja.

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Er entkommt mir, ich kann ihn nicht fangen. Er entschwindet und wird eins mit der Sonnenscheibe.

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Warte, ich rufe ihn und er kommt noch einmal zurück.

John starrt mit trüben Augen auf das Gelb, das ihm aus dem Pinsel tropft. Gelb, sagt er blöd. Du bist gelb, Vogel. Vogelgelb. Seelengelb. Woher nimmst du deine Farbe?

O, von den gelben Sternen nehme ich sie.

Judenstern Judenstern a. IMG_5904a Der Stern ist ein Vogel, quittegelb. Dein Großvater entlässt den seinen in die Freiheit. Die Großmutter auch. Und ihre Geschwister. Gelber Stern in dürrer Brust. Flieg Vogel flieg.

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Was hab ich damit zu schaffen, fragt John und hebt sein Gesicht hinauf zur gelben Scheibe der Sonne. Judenpatent , die eigentlich ein Judenabzeichen des Römischen Reiches Deutscher Nation ist. Ein Sohn der Blutschande bist du, John. Darum stehst du hier. Schau auf dich. Wer ist dein Vater? Wer deine Mutter? Deine Großeltern?

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Deine Mutter will es nicht leiden. Sie hasst den Stern, den dein Vater in seiner Brust trägt. Der Hass färbt gelb ihr Gesicht.

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Und ich?

Die Sonnenallergie hat die Mutter dir vermacht. Das ist dein Zeichen. In dir kämpfen zwei Brüder, die sich gegenseitig erschlagen.

Aber Luise?

Sie trägt das Gesicht der Mutter zur Schau. Du willst, sie soll ihr Herz entlassen aus dem Käfig des Leibes.

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Wer? Die Mutter?

Ja, die auch.

Auch? So gibt es noch andere?

Freilich. Viele. Hunderttausende oder auch eine Million. Millionen und Abermillionen. Quittegelbe und mattgelbe und bleichsüchtige Seelenvögel. Blick auf!

Es ist Nacht geworden über den Bergen. Ungezählte Sterne blinken und blinzeln ihm zu. Hier sind wir, schau auf. Hier sind wir. Fang uns, wenn du kannst. Die Sterne kreiseln, kreiseln. Wer kann sie fangen.

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Alles sinkt ins Dunkel zurück. Keiner ist da. Das Gelb tropft vom Pinsel auf ein Bild am Boden. Vom Bahnhof kommend rattert ein Güterzug vorbei. John zählt die Waggons, die er nicht sieht. Einundfünfzig, zweiundfünfzig, zählt er, zweiundfünfzig wie meine Lebensjahre.

Er ist müde und wünscht sich eine Scherbe aus dem Spiegel seines Ateliers, um sein sternenkrankes gelbes Blut aus den Adern zu entlassen.

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Nachtrag.

Bei der Beschäftigung mit dieser Geschichte erinnerte ich mich an ein Selbstportrait von Felix Nussbaum. Er und seine Frau wurden 1944 mit dem letzten Transport aus Belgien nach Auschwitz gebracht, wo sie umgebracht wurden, man weiß nicht wann.  Und natürlich weiß man auch nicht, warum. Er wurde vierzig Jahre alt.

Felix Nussbaum mit Pass

Johns Großeltern „verschwanden“, wie wir aus einem Aktenvermerk der Psychiatrie erfuhren, vermutlich wurden sie wie zehntausende Prager Juden nach Theresienstadt gebracht. Johns Vater kam mit einem Kindertransport nach England und mit dem Leben davon.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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15 Antworten zu Johns psychedelische Reise II (geschichtengenerator, Fortsetzung)

  1. PPawlo schreibt:

    Das erste herrliche Bild, das wie ein Leitmotiv immer wiederkehrt, hat mich gelockt , diese berührende Geschichte zu lesen!
    Dies scheint mir alles eine unverwechselbare, tiefschichtige Art sich auszudrücken! Wunderbar! Und herzlichen Dank dafür!

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  2. Ja, wirklich psychedelisch, kryptisch auch, creepy. Aber so ist es, das Leben, hin und wieder….

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  3. juttareichelt schreibt:

    Mich spricht das ebenfalls sehr an! Verrückt – auf eine wirklich gute Weise …

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    • gkazakou schreibt:

      danke. Verrückt oder normal – ich bin schon lange nicht mehr fähig, die Grenze zu ziehen. „Die menschliche Seele ist ein Abgrund“, pflegt ein hier sehr bekannter Strafverteidiger zu sagen. „Άβυσσος είναι η ανθρώπηνη ψυχή“ und lächelt hinter seinem Schnurr- und Spitzbart, als wäre damit alles erklärt.

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      • juttareichelt schreibt:

        Ja, das sehe ich sehr ähnlich. Manches lässt sich halbwegs einsortieren, aber vieles eben auch nicht oder nur um einen Preis, der mehr schadet als nutzt – von zwangsläufig auftretenden Irrtümern ganz zu schweigen … Herzliche Grüße und vielen Dank für deine guten Wünsche!

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  4. Myriade schreibt:

    Gefällt mir auch sehr gut !! Den Irrwitz der Nürnberger Rassengesetze in Verbindung mit dem Ödipusmythos in dieser ungewöhnlichen, irrealen Art darzustellen, finde ich genial !

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    • gkazakou schreibt:

      danke. Mir war ein bisschen schummerig bei dieser Verknüpfung,und ich hatte eine leichte Panik deswegen. Das eine ist eben noch sehr zeitnah, das andere ist ein so oft durchgekauter Mythos, dass nichts mehr weh tut. Mir allerdings kam, als ich kürzlich das Drama von Sophokles wieder hervorholte, der Gedanke, wie die Kinder von Ödipus und Iokaste mit der Situation klarkommen sollen. Sie erfuhren plötzlich, dass ihre Mutter auch ihre Großmutter sei, und am anderen Tag war diese Frau tot, hatte sich erhängt. Die Tragiker haken das einfach ab und kümmern sich nur um Ödipus. – Hier ist dann auch die Parallele: wie können die Kinder von Mischehen, wo der eine Teil vom Holocaust und der andere vom Faschismus geprägt ist, leben, ohne verrückt zu werden?

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      • Myriade schreibt:

        Ja, ich sehe, was du meinst.
        Es waren wohl Zeiten in denen viele beinahe oder tatsächlich den Verstand verloren haben. Auf der Seite der Opfer die Überlebenden, die sich damit herumschlugen überlebt zu haben, während so viele andere starben. Auf der anderen Seite die Kinder der Täter …. Ich habe einmal einen Bericht gesehen über Kinder von einigen Nazi-Bonzen. Ich weiß nicht mehr wessen Tochter und Sohn es waren, die sich sterilisieren ließen um wie sie sagten „keine weiteren Monster in die Welt zu setzen“. So viel Leid auf allen Seiten …
        Eine der klügsten Äußerungen , die ich dazu gehört habe, kam von einem bekannten Rabbiner, dessen Namen ich mir leider auch nicht gemerkt habe, der meinte, dass er Gott danke auf der Seite der Opfer, als Jude geboren worden zu sein, weil er nicht sagen könne, was er wohl als Deutscher getan hätte

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    • gkazakou schreibt:

      obgleich es sich um ein kollektives Schicksal handelt, das die Matrix für alle Beteiligten abgibt – übrigens nicht nur für die unmittelbar nachfolgende Generation, sondern „bis ins sechste und siebte Glied“ (Beispiel Atriden: die Gräuel des Anfangs werden bei Agamemnon-Klythaimnestra-Iphigenia-Orest viral und erst Orest und die ihm Nachfolgenden können nach der Entsühnung Frieden finden). …obwohl also das kollektive Schicksal die Matrix bildet, können Erlösung und Befreiung nur individuell errungen werden. So sahen es die Griechen, so sehe ich das auch heute noch. Es gibt keine Möglichkeit, quasi per Kollektivbeschluss „einen Schlussstrich zu ziehen“

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    • gkazakou schreibt:

      Sippenhaft gibt es nicht (soll es nicht geben), die ist von außen auferlegt, genau wie die kollektive Freisprechung. Es geht aber tiefer als „subjektives Empfinden“. Es handelt sich, theoretisch gesprochen, um eine Art „systemische Emploki/Verwicklung“, von der man sich durch Bewusstseinsarbeit befreien kann.

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  5. haluise schreibt:

    ES ist an meiner zeit, die matrix loslassen … restlos
    ICH BIN DAS ICH BIN

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