geschichtengenerator fortgesetzt: Emma, Erkan und der interkulturelle Ansatz

Wie immer, angeregt durch http://juttareichelt.com/2016/04/15/14-geschichtengenerator-in-aktion/. Dieser Abschnitt setzt die Story dort fort, wo wir sie vor drei Tagen verlassen haben https://gerdakazakou.com/2016/04/15/geschichtengenerator-emma-luise-und-abraam/

Emma hat ihren Mantel übergeworfen, ihre Handtasche ergriffen und eilt nun Richtung Vorhalle, nickt kurz dem Wachmann zu und zwingt sich, nicht zu rennen. Nur raus hier. Nur kein Aufsehen erregen. Nur nicht den Kopf verlieren. Im Gehen tastet sie nach dem Autoschlüssel, den Hausschlüsseln – sie sind dort, wo sie hingehören, im Außentäschchen der Handtasche, jederzeit griffbereit. Der Wagen steht dort, wo sie ihn am Morgen geparkt hat, die Tür lässt sich öffnen, der Motor springt an, surrt freundlich, wie es sich gehört für einen gut gewarteten Motor. Ein Blick in den Rückspiegel – niemand ist ihr gefolgt. Ein Blick in den Spiegel hinter dem Sonnenschutz – sie blickt in ihr eigenes Gesicht.

Emma atmet tief durch und zittert nur noch wenig, als sie sich in den Abendverkehr einfädelt. Alles ist so, wie man es erwarten kann. Die Ampeln schalten von Rot auf Grün auf Gelb auf Rot, die Autofahrer halten sich an den Rechtsverkehr, die Fußgänger benutzen die Überwege, die Straßen kreuzen sich dort, wo sie sich immer kreuzen. Nach einer halben Stunde stellt sie den Wagen auf dem Parkplatz ihres Wohnblocks ab, durchschreitet den Eingangsbereich, betritt den Fahrstuhl, drückt auf den Knopf, fünfter Stock. Sie steckt ihren Hausschlüssel ins Schloss, schließt auf. Niemand im Flur. Ein Rundgang durch Salon, Küche und Schlafzimmer bestätigt: niemand ist da. Keine Luise sitzt in ihrem Schaukelstuhl und lächelt ihr hämisch zu, kein Abraam faselt von afrikanischen Paradiesen.  Alles ist so, wie es sich gehört.

Immer noch ein wenig bleich, mischt sich Emma einen Drink aus Gin und Tomatensaft, gibt ein paar Stücke Eis dazu und lässt sie klirren. So bewaffnet, sinkt sie in ihren Schaukelstuhl, gibt sich einen Schups und beginnt, nippend und schaukelnd, nachzudenken. Systematisch, ordentlich, logisch.

Da ist zum einen der verrückte John, der eine Frau namens Luise bestialisch ermordet hat. John behauptet steif und fest,  die Tote habe sich in den Splittern des Atelierspiegels vervielfältigt, verschaffe sich seither über den  Badezimmerspiegel Zutritt zu ihm und zwinge ihn, unerlaubte Dinge mit ihr zu treiben.

(Querverweise für Leser, die sich nicht erinnern: https://gerdakazakou.com/2016/02/12/geschichtengeneratur-luise-3-fortsetzung/ und

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https://gerdakazakou.com/2016/02/17/luise-7-fortsetzung-in-der-psychiatrischen-klinik/ (Psychiatrisches Erstgutachten)IMG_5809sscc IMG_5905xxx

Johns Obsession hat, seit sie sich entschloss, dem „interkulturellen Ansatz“ zu folgen, eine überraschend normale Erklärung gefunden. Offenbar hat ein jüdisches Ritual, tief vergraben in der Ahnenreihe, im Kopf  des Malers Verwirrung gestiftet:  Orthodoxe Juden verhängen nach einem Todesfall die Spiegel. Denn der Spiegel gilt bei ihnen als eine Art Falle, in der sich der Tote, wenn er sich zufällig darin spiegelt, verfangen könnte. Zudem besteht die Gefahr der Verdoppelung und dass noch ein Mensch mit in den Tod genommen wird.  Weil der Spiegel im Atelier zersplitterte und nicht verhängt wurde, fühlt er sich nun von Luise verfolgt.

Mächtig streng sich Emma an, auch das Auftreten von Abraam und Luise in der Kantine zu „normalisieren“ – wie sie das in ihrem Berufs-Jargon nennt. „Alles ganz normal“ passt ja vielleicht noch auf Abraam. Wer aus Afrika kommt, beurteilt Geistererscheinungen eben anders als ein Deutscher. Das ist ein Kernsatz des interkulturellen Ansatzes. Mithin ist es ihm ein Leichtes, sich mit Luise anzufreunden. Aber wieso hat sie selbst Luise gesehen und gehört? Sie glaubt nicht an Gespenster. Sie kommt nicht aus Afrika. Und verrückt ist sie schon gar nicht. Ergo, schließt Emma messerscharf und lacht, prustet los, verschluckt sich fast an ihrer Bloody Mary, kann die Frau, die da mit Abraam hereinspaziert kam, unmöglich Luise sein. Wieso hat sie das nicht gleich begriffen und hat sich ins Bockshorn jagen lassen? Luise ist bekanntlich mausetot, wurde von der Gerichtsmedizin noch ein bisschen mehr auseinander geschnitten und was von ihr übrig war, wurde christlich begraben. Schluss, aus. Die „Auferstehung im Fleische“ ist ein Ammenmärchen, das sie, wenngleich katholisch getauft, nicht zu glauben braucht. Und selbst wenn  – bis da wäre es ja noch ein Weilchen hin. Erst am Ende aller Zeiten steht sowas zur Debatte.

Wer also ist diese Frau, die sich als Luise vorstellte? Das Wahrscheinlichste ist: eine Patientin, die sich in die Kantine verirrt hat. Klar, so ist es! Und ihr Galan wird vermutlich ebenfalls in der offenen Abteilung betreut, hat wohl den Kulturschock nicht gut vertragen.

Nun vollends wiederhergestellt, gibt Emma ihrem Schaukelstuhl einen kräftigen Schupps und springt auf die Füße. Sie muss Erkan ihr plötzliches Verschwinden erklären und wird ihn bei der Gelegenheit gleich zu einem abendlichen Tête-a-Tête einladen.

Gesagt, getan. Kein Problem. Er hat ihre Erklärung geschluckt – ein plötzlicher Anruf von der Mama, der es in letzter Zeit nicht so gut geht, sie habe nach dem Rechten sehen müssen – es sei aber zum Glück falscher Alarm gewesen. Das mit der Mama ist natürlich gelogen, ihre Beziehungen zu ihrer Mutter sind alles andere als freundlich und sie geht bestenfalls zu Weihnachten und zum Geburtstag vorbei. Aber die Besorgnis um die Mama macht sich gut. Türken mögen das. Sie haben Familiensinn. Überhaupt, die Sache mit Erkan läuft gut, ausgezeichnet. Und damit sie noch ein bisschen besser läuft, hat Emma jetzt auch ihr Schlafzimmer umgestaltet.

Emma wechselt ins Schlafzimmer, wirft sich auf das breite Doppelbett, das nun eine schwere rote Damastdecke verhüllt. Ein Griff zu einer Schnur, und ein dezentes Licht verbreitet sich im Raum. Sie lächelt ihrem Spiegelbild zu, das im großen Spiegel über ihr aufgetaucht ist. Sie hat ihn erst kürzlich schräg über dem Bett aufhängen lassen, Erkan kennt ihn noch nicht. Der wird sich wundern! Eine richtige 1001-Nacht-Atmosphäre hat sie vorbereitet für ihn! Immer noch sich selbst zulächelnd, streift sie die Kleidung ab, räkelt sich wohlig und freut sich an ihrem weichen, weißen ein wenig fülligen Leib, der sich auf der rotglänzenden Decke ausgezeichnet ausnimmt. Türken mögen das, denkt sie erneut und winkt sich aufmunternd zu. Nur keine falsche Scham!

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Dr. Erkan Y findet es angenehm, gelegentlich bei Emma vom Stress des Tages auszuruhen, bevor er sich nach Hause begibt. Und so lässt er sich auch heute, kaum hat Emma ihm freudestrahlend die Tür geöffnet, zufrieden in ihrem gemütlichen Schaukelstuhl nieder und greift nach dem gekühlten Bier, das sie mitsamt ein paar kleinen Leckereien auf das Beistelltischchen platziert hat, bevor sie sich –  ein rundes nettes Kätzchen in seidigem Morgenrock – im Sessel gegenüber zusammenrollt. Genüsslich nimmt er einen Schluck, lockert den Schlips und, da man nicht immer über die Liebe sprechen kann – insbesondere wenn es da einen wunden Punkt gibt, über den man besser schweigt – , fragt er: „Was macht eigentlich deine Arbeit mit unserem Künstler? Macht sie Fortschritte?“

Emma lächelt ihr süßestes Lächeln und breitet die Arme aus. „Ach, Erkan, Lieber, müssen wir uns das Zusammensein mit Beruflichem verderben? Lass doch deine Seele einfach mal baumeln. Welche Musik soll ich für dich auflegen? Schau, ich hab eine ganze Menge türkischer Platten besorgt!“

8b176874f03cf848083adb586f87ffa9 Was Emma nicht weiß: Erkan hasst türkische Musik, die er für orientalisches Geplärre hält, er mag auch türkisches Essen nicht, und die türkischen Seifenopern, die bei ihm zu Hause tagein tagaus laufen, sind ihm ein Gräuel. Er sieht sich selbst als modernen aufgeklärten Europäer, der es dank großer Selbstdisziplin und immensen Fleißes geschafft hat, seine jetzige Stellung zu erreichen. Es stört ihn ein wenig, dass Emma ihn mit „türkischen Geschmäckern“ zu verwöhnen trachtet, doch andererseits kommt es ihm auch gelegen. Denn ihre weiche Weiblichkeit, ihre Hingabefreudigkeit und Dienstbereitschaft sind ihm eine Labsal.

indexSeine Frau ist so anders, arg verbittert, weil sie der Familie zuliebe ihren Beruf an den Nagel hängen musste, und sie macht ihm jedes Mal ein Theater, wenn er verspätet heimkommt. Neben der türkischen Ehefrau sich eine deutsche  Geliebte halten – ein halb selbstironisches, halb selbstzufriedenes Lächeln erscheint auf seinem markanten Gesicht -, das ist womöglich doch ein orientalischer Zug an ihm.Cornelisz Cornelis Venus And Adonis With Cupid In A LandscapeAch, Emmalein, in deinem interkulturellen Ansatz, den du dir so schön ausgemalt hast, ist, so fürchte ich, der Wurm drin!  Ob der Orientale in Erkan jedenfalls deine rote Damastdecke und den schrägen Spiegel im vergoldeten Rahmen zu gustieren weiß, in dem sich, so hoffst du, schon bald sein männlich-brauner und dein weicher weißer Leib spiegeln werden, süß und wild und wollüstig vereint? Und die Musik? Welche Musik ist denn nun die passende?

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ps. Die Bilder stellen Mars und Venus in verbotener Umarmung dar. Diverse Maler, deren Namen ich, pardon, vergessen habe. Die Putten, den gehörnten Ehemann Vulkan und andere die beiden umschwirrenden Gestalten habe ich mir gestattet, mit einer roten Decke zu verhüllen. Denn die gerade zurückeroberte Rationalität unserer Emma könnte bei dem Geistertreiben Schaden nehmen.

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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7 Antworten zu geschichtengenerator fortgesetzt: Emma, Erkan und der interkulturelle Ansatz

  1. haluise schreibt:

    WIR SIND,
    was wir denken und glauben zu sein
    NICHT
    was andere meinen.
    das gilt auch für die moralvorstellungen und in wieweit ich mich der allgemeinheit füge.
    immer die entscheidung des individuums.
    wenn ich die 10 gebote respektiere, ist das auch die eigene entscheidung.
    wenn ich die schmerzen des anderen als grenze für mein tun betrachte, so WAR das bis jetzt allgemein akzeptiert, wird
    JEDOCH
    derzeit abgebaut von den satanisten.
    sagt man, ICH sei verrückt, dann muss das nicht stimmen für mich, jedoch kann der weg in die psychiatrie führen … heute ganz leicht.

    ohoh BIN LUISE

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    • gkazakou schreibt:

      Bedenkenswertes schreibst du, Luise. „wenn ich die schmerzen des anderen als grenze für mein tun betrachte, so WAR das bis jetzt allgemein akzeptiert,“ Das war, fürchte ich, Luise, nie allgemein akzeptiert. Obgleich es die Quintessenz für ethische Entscheidungen ist.
      Was bedeutet für dich „verrückt“?

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      • haluise schreibt:

        die FRAGE der SCHMERZGRENZE spiegelte sich in VÖLKERRECHTEN wider (die grad abgebaut werden, wie wir in EU erleben. in rechtsfragen erleben wir die pure willkür in D)
        ‚allgemein‘ nicht überall/immer.

        verrückt bedeutet für mich ‚aus der MITTE‘ verschoben/geworfen.
        für andere ist es ‚unnormal‘ ohne definierbarkeit, was normal sei.
        – verrückt – hängt sehr vom UNTERSCHEIDUNGSVERMÖGEN des/r beraters/In ab.
        dt psychiaterInnen halten personen für verrückst, die man dringend richterlich unterstützt pharmakologisch vergiften sollte bis zum ende.
        BIN

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    • gkazakou schreibt:

      stimme zu, wenngleich ich Wörter mit Absolutheitsanspruch wie immer, nie, allgemein, pur, und ähnliche Steigerungsformen für vorfindbare Tendenzen möglichst vermeide. ZB bei aller Kritik an der Psychiatrie, die ich in meiner Luise-Geschichte ja karrikiere, würde ich nicht so weit gehen wie du.

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      • haluise schreibt:

        alle sind alle und allgemein sind vereinheitlichte gruppen mit tendenzen, so empfinde ich dieses wort.
        es gibt schon mal gar nix absolutes. auch die wissenschaft mit ihren aussagen streicht mit vorliebe alles am rande „störende“ weg für eine ?klare? aussage.
        verbal ist es schwierig, das einheitliche plus alle weiteren individuellen varianten in wenige worte zu fassen oder lass ich sie weg oder ..oder…

        zur psychiatrie: es gibt mehr „wie Mollath-Fälle“, die man auf grossen internet-unterstützer-plattformen finden kann, die auch die Schweizer szene enthalten, wo besonders brisante politische situationen DICH (hoffentlich nicht) ins visier nehmen.
        man hört, dass insassen, wenn sie die wahl bekommen, lieber in den dreckigen knast gehen als in der blitzeblanken psychiatrie bleiben, wo sie die palette der pharma-industrie austesten.
        DIR wünsche ich GESUNDHEIT und LIEBE
        BIN

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    • gkazakou schreibt:

      danke dir herzlich für Erklärungen und die Guten Wünsche, die ich dir gern verdoppelt zurückgebe. Ich fühle mich grad nicht gefährdet, in die psychiatrische Maschinerie zu geraten, habe aber mit Menschen zu tun, die Schutz brauchen,. Solche Platformen sind wichtig.

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  2. haluise schreibt:

    Hat dies auf haluise rebloggt.

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