Geschichtengenerator: John – Täter oder Opfer?

 

Luise, 7. Fortsetzung: In der Psychiatrischen Klinik.

„Verstehen Sie denn nicht, dass diese Handlung nicht unser ganzes Wesen ausdrückt und dass es daher eine fürchterliche Ungerechtigkeit wäre, uns allein nach ihr zu beurteilen, uns an ihr angekettet und aufgehängt am Pranger stehen zu lassen für die Dauer einer ganzen Existenz, als ob die in dieser einen Handlung bestünde. Begreifen Sie jetzt die Niedertracht dieser (Frau)?“ Luigi Pirandello, Sechs Personen suchen einen Autor. Der Vater. 

John versucht, seiner Therapeutin, Emma K., etwas klar zu machen, was diese, trotz aller seiner Bemühungen, überhaupt nicht zu begreifen scheint: dass er, John, nicht in seiner Tat – dem Mord an Luise – aufgehe. Dass er eigentlich ein ganz anderer sei. Dass es ein unglückliches Zusammentreffen, eine Gemeinheit des Schicksals gewesen sei, Luise zu ihm zu schicken. Luise, behauptet er, habe ihr Ende selbst herausgefordert und ihn, John, ins Unglück gestürzt, indem sie ihn sich zum Mörder erkoren habe. Seine Rede, findet Emma, ist trotz solcher aberwitzigen Behauptungen erstaunlich sachlich und in sich logisch. Folgerichtig in der Zwangsvorstellung. Das, so hat sie in ihren Psychologievorlesungen gelernt, sei bei psychiotischen Patienten oft der Fall.

John nimmt einen neuen Anlauf, ihr die Sache zu erklären: „Ich war ja nicht unzufrieden! Ich hatte meine Kundschaft, ich hatte meine Bekannten und meine kleinen Liebschaften im Hotel an der Hauptstraße. Gerne saß ich bei Nina an der Theke und folgte den Unterhaltungen der Gäste, trank in Frieden mein Bier. Verkaufte ab und zu ein Bild, konnte davon leben, zwar bescheiden, aber es ging. Im Atelier gefiel es mir, und ich genoss es, wenn die jungen Leute reinschauten. Dieser kleine Flo mit seinen Kumpanen und mit seiner Spraykunst, seinen Witzchen, seiner ganzen frischen Zutraulichkeit – das war für mich wie ein Bad im Jungbrunnen. https://gerdakazakou.com/2016/01/29/fortsetzung-iii-mit-atelier-flo-komm/

Warum um Himmels willen musste ich Nina fragen, als ich sie zusammen mit einer Fremden, mir vage Bekannten vor dem Apollon stehen sah? Was ging mich die Fremde an? Wer gab mir die bescheuerte Idee ein, ihr einen Blumenstrauß zu schicken und meine Visitenkarte dran zu heften? Nur weil sie mal Modell in der Kunstakademie, an der auch ich studierte, gewesen war? Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich sie nicht erkannt hatte? Weil Nina mich schief ansah und meinte, wir interessierten uns nur für die Stellung des Hüftknochens und nicht für den Menschen hinter dem Modell? https://gerdakazakou.com/2016/02/05/luise-juttas-geschichtengenerator-in-aktion/ und  https://gerdakazakou.com/2016/02/09/geschichtengenerator-in-aktion-luise-aeltere-dame-mit-hut-fortsetzung/

Ich hatte diese ältliche Person mit Hut ja schon fast vergessen, da schneit sie eines Abends in mein Atelier herein, stellt sich vor: Luise. Duzt mich, als hätten wir zusammen im Sandkasten gespielt.  Streng schaut sie sich im Atelier um, zieht eine angewiderte Grimasse und erklärt kurz angebunden, dass meine Malerei ein Scheiß sei und ich dringend ein Akt-Modell brauche. Sie.

Ich habe mich reinlegen lassen, habe den Köder geschluckt. Ich habe gedacht: nun, warum nicht. Sie ist billig. Sie ist ein Profi. Es kann ja nicht schaden. Vielleicht brauche ich ja wirklich ein bisschen Trainung. Allzu lange schmore ich schon in meinem eigenen Saft. Und so rannte ich in mein Unglück.“

Emma hört zu, hört auch nicht zu. Sie notiert sich einen Satz: „John hält sich für das Opfer, und sein Opfer hält er für den Täter“. Sie starrt auf diesen Satz, ihre Gedanken schweifen ab, reißen sie in ihre eigenen Geschichte. Und so entgeht ihr leider, was John weiter über seine Erlebnisse mit Luise mitzuteilen hat. Irgendwann bemerkt John, dass seine Therapeutin ihm gar nicht zuhört, und resigniert schließt er den Mund …..

Uns macht das nichts aus, denn wir wissen ja Bescheid. Haben wir nicht Johns zunehmende Anspannung, seine verzweifelte Hoffnung, doch noch ein Großer der Kunst zu werden, miterlebt?

3521759692_bf55295057_o 20151006102753!Max_Beckmann,_1918-19,_The_Night_(Die_Nacht),_oil_on_canvas,_133_x_154_cm,_Kunstsammlung_Nordrhein-Westfalen,_Düsseldorf Gemälde / Öl auf Leinwand (1944) von Max Beckmann [1884 - 1950] Höhe x Breite 115x150 cmInventar-Nr.: NI 2096Person: Max Beckmann [1884 - 1950], Deutscher Maler und GrafikerSystematik: Personen / Künstler / Beckmann / Werke, Artist: Max Beckmann

IMG_5868 Schiele, Onanie IMG_5829 Schiele knieende Frau schiele, Akt  Beckmann Die Nacht, Detail W de Kooning Haben wir nicht gesehen, wie ihn diese Frau, Luise, fertig machte mit ihrer verächtlichen achselzuckenden Gegenwart? Wie er litt, weil sie zwar nackt, in allerlei Verrenkungen, vor ihm stand und lag, aber ihr Wesen hermetisch verborgen hielt, so dass er ihr Inneres nicht erreichen konnte? https://gerdakazakou.com/2016/02/12/luise-4-fortsetzung-inspiriert-durch-juttas-geschichtengenerator/ IMG_5792v Wie er davon zu träumen begann, einer der ganz Großen zu werden – einer, der die Beschränkungen durch Scham und guten Geschmack zerreißt und die im Menschen tobenden Leidenschaften, seine Gewalttätigkeit und seinen Durst nach Leiden krass, mitleidlos und wahr zur Darstellung bringt? IMG_5809sscc

IMG_5809ssccc  Haben wir nicht geahnt, dass das kein gutes Ende nehmen würde?

IMG_5905 Wurde unsere Ahnung nicht fast schon Gewissheit, als John diesen merkwürdigen Traum hatte, in dem er, ein Junge noch, einem Zwerg mit dem eigenen erwachsenen Gesicht gegenüber stand, während eine ältliche Frau mit gelbem Gesicht und dem Habit einer Richterin einen Mann am Gängelband führte? https://gerdakazakou.wordpress.com/wp-admin/post.php?post=7646&action=editIMG_5817aDie Tragik des Sohnes, dachten wir, der eine rigide, frigide Mutter hat, die alles beherrscht und alle fertigmacht, und einen Vater, der dem nichts entgegen zu setzen weiß…. Da wurde ahnungsweise klar: in Luise wird John seine Mutter wieder präsent. Seine Mutter, verschlossen und kalt, die ihn nicht an sich heranlässt. Er will, er muss ihr Herz erreichen, notfalls, indem er ihr ein Messer hineinsticht. Er will, er muss ihren Leib erreichen, in dem sie ihn ausgetragen hat, notfalls, in dem er ihn aufschneidet. Vielleicht, wenn er noch einmal von vorn anfinge, vom Mutterleib, in dem er steckte, und einen anderen Ausgang ins Leben nähme als den, den er nahm – vielleicht, so dachte er, wäre alles anders gekommen und ….

Emma klappt ihren Dossier zu, steckt den Kugelschreiber hinter die Schlaufe, die für diesen Zweck am Deckel angebracht wurde – eine praktische Einrichtung, findet Emma, so braucht man den Stift nicht zu suchen. Er verliert sich so leicht zwischen all den Dingen in der großen unförmigen Tasche, die sie meist mit sich schleppt. Die heutige Sitzung mit John ist zu Ende. Immer noch weiß sie nicht recht, welchen wissenschaftlichen Ansatz sie für ihre Magisterarbeit wählen soll. https://gerdakazakou.com/2016/03/26/geschichtengenerator-10-emma-weiss-alles-komm-flohmarkt/. Beim letzten Zusammensein mit Erkan – ja, so nennt sie ihn jetzt bei sich, und nicht mehr Chef und Doktor – ergab sich keine Gelegenheit, die Sache durchzusprechen. Die Erinnerung an das, was sie stattdessen zusammen trieben, schüttelt sie angenehm, und eine süße Hitze breitet sich vom Unterleib über den Rücken bis in ihren Nacken aus, so dass sich die blondierten Härchen leise aufstellen. Täter? Opfer? denkt sie und lächelt in sich hinein. Na, wir werden das Kind schon schaukeln.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Antworten zu Geschichtengenerator: John – Täter oder Opfer?

  1. juttareichelt schreibt:

    Liebe Gerda, ich habe das mit großem Vergnügen gelesen – und nicht weniger Freude an den so schön zusammengestellten Bildern und Collagen gehabt! Sehr herzliche Grüße!

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  2. karfunkelfee schreibt:

    Liebe Gerda, gekonnt erzählt, das ist wirklich sehr feine Kunst, was ich hier bei dir dargeboten bekomme. Lieben Dank, sagt Stefanie

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