Montag ist Fototermin – Ein 10-Jahres-Bogen (Mani – New York – Mexiko – Mani)

Auf meinem täglichen Spaziergang mit Hund Tito wollte ich heute die „Elizabeth“ fotografieren, ein Boot, das fast in die Erde zurückgesunken ist. Ich wollte euch die ganze Serie zeigen – aufgenommen in den letzten Jahren -, endend mit den voll erblühten Mittagsblumen, die das Boot langsam unter sich begraben. Doch war es zu kühl und schattig, die Mittagsblumen hielten ihre Augen geschlossen.

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Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachte ich und begab mich zu meinem Lieblingsplatz „bei Babis“. Ich hatte ein dickes Heft mitgenommen, um Skizzen zu machen, doch als ich es öffnete, stellte ich fest: Es gab einige beschriebene Seiten. Ein altes Tagebuch, abgebrochen. Neugierig begann ich zu lesen, während ich den leicht süßen griechischen Kaffee schlürfte, den mir Babis‘ Sohn serviert hatte.

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Und so schwebte ich, in den Notizen lesend, plötzlich über Kanadas „eiszeitüberformter Landschaft, Seen wie ausgekleckste Tinte, Ströme ohne Bett, die sich zu Seen verbreitern, sich verflechten…Breite Wasserarme – Meer. Eine Halbinsel in Goldocker wie Herbstwälder… Linien wie Straßen, nirgendwo endend. Schatten der Wolken auf den Seen und Felsen – die Erde ein Fleckenmuster. Nach einem breiten Wasserarm beginnt langsam die Kulturlandschaft. Zunächst nur blitzende Punkte an der Küste, vermutlich Aussiedlungen. Kleine Wölkchen nehmen an Zahl zu.“

Ich überfliege die nächsten Eintragungen, bin längst auf dem JFK-Flughafen gelandet, habe auch den Tunnel durchfahren, den John Updike in „Der Terrorist“ vermutlich beschreibt (Der Roman war kurz zuvor herausgekommen), und im Hotel am Central Park abgestiegen. „Aussicht auf Hochhäuser, die sich übereinander türmen, ganz unten ein Zwerg von nur 18 Etagen….“

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Vier Wochen später und einige Seiten weiter  bin ich in Mexiko und lese: „Letzter Tag in Helens Landhaus. Über den weichen Formen der Lavaberge türmen sich  ähnlich gestaltete Wolken. Hier, in ihrem weiten schönen Salon, auf dem weißen Sofa mit der braun-weiß gestreiften Lamadecke sitze ich, brav, vielleicht dass ich begreife, warum diese Reise für mich war, und was. – In der Nacht war ich unruhig, der Vollmond stand über dem Land, zwei Mal erhob ich mich, warf die lange grüne Bluse über und tappte hinaus. Beim dritten Mal stieg ich dann auf die Terrasse, deren Ziegelstein-Boden grobe Risse aufweist, und sah hinüber zum Popokatepitl, der mit dem Kommen der Sonne den bläulichen Schleier niedergleiten ließ und sich als ätherisch durchglühtes gelblich-rötliches Dreieck enthüllte. Der Rauch farbiger, kräftiger. Der Vulkan ist aktiv und zeigt es. Seine perfekte Form wird nur durch einen Huckel an der westlichen Flanke gestört. Seine Geliebte sah ich erst später, sie ruhte unter einer Wolkenbank. ….“

Helen Escobedo, die große mexikanische Bildhauerin und zu meiner unbeschreiblichen Freude meine Freundin (ich war ihr einst vor der verschlossenen Tür der Athener Pinakothek  begegnet, wir waren beide ein wenig enttäuscht …und so lernten wir uns kennen), hatte uns zu sich eingeladen. Das war im Jahre 2006. Inzwischen ist sie lange tot. Aber in mir ist sie lebendig, und lebendig ist ihr Rat, den ich heute in jenen Notizen wieder las:

„Helen schlug mir vor, ganz konzentriert auf das Wesentliche, das heißt auf das, was ich denke, zu skizzieren.“ Und so schrieb ich damals, in ihrem Haus, auf, was ich mir als Kunstprojekt vorstellte „in unserem Olivenland“, daheim in der Mani. Und sann über den „Bogen der Bucht“ nach – „Vorstellung der Fläche in der Horizontalen. … Der Bogen ist durch die Küste gebildet. Ohne Intervention der Küste würde sich das Blau in einer unendlichen Fläche ausdehnen, deren scheinbare Grenzen kreisförmig wären, in der Mitte mein Blick. Der Horizont als Grenze des Sehfeldes. – Doch tatsächlich verriegelt das Gebirge die Fläche, deren Fortsetzung nur zu erträumen ist. Wenn ich den Gipfel ersteige, weitet sich der Blick erneut, greift über den horizontalen Kreis hinaus. – Ich denke an den gewaltigen Dreiecksschatten, der auf das Meer fällt, wenn die Sonne hinter der Pyramide, dem Hauptgipfel des Taygetos, aufgeht. ….“

Dort, an diesem Meeresbogen, sitze ich jetzt, und versuche den Bogen meines Lebens zu spannen. Zehn Jahre Leben. Wenig und viel. Bei einem Tässchen leicht gesüßten griechischen Kaffees.

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Hier nun ein Foto des Schattens, den der höchste Gipfel des Taygetos-Gebirges an seltenen Tagen, bei Sonnenaufgang, auf die Bucht von Kalamata wirft. Man kann ihn nur vom Gipfel aus sehen.  (Es ist leider nicht mein Foto, denn ich kann nicht mehr hinaufsteigen, und ich weiß auch nicht, wer es aufgenommen hat).

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Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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22 Antworten zu Montag ist Fototermin – Ein 10-Jahres-Bogen (Mani – New York – Mexiko – Mani)

  1. afrikafrau schreibt:

    wie schön, daß du deine Gedanken teilst und uns einen Einblick gewährst….

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  2. tikerscherk schreibt:

    Sehr schöne Landschaftsbeschreibungen. ich sehe förmlich das Licht und die Farbe des Popocatepitl.

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  3. juergenkuester schreibt:

    Das, was Du da schreibst rührt mich an. Danke Dir! Liebe Grüße Juergen

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  4. dasgrauesofa schreibt:

    Dein „Osterspaziergang“ mit Deinem unverhofften Fund hat mich sehr beeindruckt. Wie es der Zufall doch manchmal will.
    Viele Grüße, Claudia

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    • gkazakou schreibt:

      merkwürdig war diese Wiederbegegnung in der Tat. Hinzu kam noch, dass ich heute, ebenfalls unvermutet, in einem Blog auf einen Bericht über die Totentage in Mexiko stieß – da war auch ich dort. So als ob Helen Escobedo von dort, wo sie jetzt ist, ein bisschen die Fäden zieht, damit ich …

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  5. kunstschaffende schreibt:

    Liebe Gerda,

    dieser, Dein wunderschöner Spaziergang in Deine Vergangenheit hat mich jetzt so gefesselt, dass ich das Tatort Debüt mit Heike Makatsch verpasse, ist völlig unwichtig. Ich hoffe sehr, dass Du uns noch viel über Dein Leben berichtest, es ist bestimmt sehr interessant. Vor allem die Art und Weise wie Du erzählst ist sehr schön!

    Liebe Grüße Babsi

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  6. Meermond schreibt:

    Ein guter Rat.
    Herzliche Grüße
    Meermond

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  7. gkazakou schreibt:

    darf ich stolz sein, dass ich einen Kommissar aus dem Rennen geworfen habe? Danke Babsi, und Guten Abend noch!

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    • kunstschaffende schreibt:

      Habe Deinen Nachtrag gelesen. Dieser Brauch für die Toten ist sehr schön, denn ich glaube auch, solange die Erinnerung weiterlebt, sind geliebte Menschen weiter bei uns. Habe Helen gegoogelt. Sie war ja nicht nur künstlerisch sondern, laut Deiner Beschreibung, auch menschlich eine Größe bzw. eine wertvolle Person.

      Und ja, natürlich musst Du stolz sein. Du bist ja auch eine große Künstlerin!

      Und ich glaube, auch eine phantastische Lehrerin.

      Guts Nächtle und schöne Erinnerungsträume

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      • gkazakou schreibt:

        Danke schön, ich geh jetzt auch schlafen.
        ps Künstlerisch gibt es keinen Vergleich zwischen Helen und mir. Sie war ein ganz anderes Kaliber.

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  8. bruni8wortbehagen schreibt:

    ein feiner Text, liebe Gerda, Mittagblumen, die nicht aufbühen können, weil ihnen die nötige Sonne fehlt, ein kleiner Kaffee und die Gedanken an eine länger verstorbene Freundin, die einen Rat geben konnte, der nachhaltige Wirkung trug.
    Manchmal trifft man einen Menschen, der das auf den Punkt bringt, was man zwar fühlte, aber man mußte es nochmal konzentriert hören von jemand, dem es Lebensmotto war.

    Liebe Grüße von Bruni am späten Ostermontagabend

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  9. gkazakou schreibt:

    danke Bruni, du bringst den Punkt auf den Punkt. Doppeldurchschuss. Liebe Grüße und angenehme Nachtruhe!

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  10. bruni8wortbehagen schreibt:

    Schlaf du auch gut, liebe Gerda

    Hilfe, Doppeldurchschuss *g*

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  11. Ulli schreibt:

    Du siehst mich hier sehr bewegt sitzen, liebe Gerda! Danke-

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