Victor (3) und Emma

Heute kommt die dritte Fortsetzung der Geschichte von Victor (der aktuelle Held von Juttas http://juttareichelt.com/in Aktion), verknotet mit der Geschichte von Emma (schwer bepackt, Käsetheke).

Am nächsten Tag war schreckliches Wetter. Schneeregen ist das, was ich am meisten hasse. Ein ordentlicher Schnee, dagegen hab ich nichts, aber wenn es kalt ist und regnet und dazu noch schneit, und die Füße patschen durch diesen weichen Matsch, nee, das hasse ich. Aber ich musste von meiner Abendschicht in der Paloma heim. Weit ist es ja nicht, zum Glück.

IMG_5956 Ich rechnete nicht damit, Victor an seinem Platz zu finden, aber er war da. Er hatte sich ein bisschen mehr unter die Überdachung der Fußgängerzone zurückgezogen, und seine Beine hatte er mit einer Decke verhüllt. Ich meine, sein Bein, denn das andere ist ja weg und kann nicht mehr frieren. Die Leute rannten an ihm vorbei, keiner kümmerte sich. Alle hatten es irgendwie eilig, ins Warme zu kommen, oder weiß ich wohin. Er tat mir leid, wie er da auf seinem Karren hockte. Sein Gesicht war irgendwie blass, obwohl er ja schwarz ist. Komisch, können Neger auch blass werden? Na ja, krank können sie sicher werden, und Victor sah gar nicht gut aus. Da dachte ich an den Käseballen, den ich heute mitgenommen hatte. Das Personal von der Käsetheke darf jede Woche einen mit nach Hause nehmen, müssen Sie wissen. Also ich habe ihn nicht gestohlen, klar? Ich hatte ihn in meinem Rucksack, in dem ich immer all meine Einkäufe schleppe.

Ich hole also den Käseballen aus dem Rucksack und gehe hin zu Victor. „Hallo, da ist ja mein hübsches Täubchen“, krächzt er. Er war schrecklich heiser, wahrscheinlich war die Erkältung schon am Kommen. „Wie geht es dir denn, Emma?“ So nett, sage ich Ihnen! Ich war richtig froh, dass ich den Käseballen hatte, so dass ich ihm was geben konnte. Denn viel Geld habe ich nicht, wie Sie wissen. Guckt der Victor auf den Käseballen, fragt, „Ist der für mich?“ und als ich nicke, holt er ein blaues Buch unter seiner Decke hervor und gibt es mir: „Das ist für dich, mein Täubchen“, sagt er.

Na so was. Mir hat noch nie jemand ein Buch geschenkt. Ich bin ja nicht grad eine Leseratte, müssen Sie wissen. In der Schule war ich nicht so interessiert an den Sachen, die wir da lesen sollten, und schließlich schaffte ich mit Ach und Krach die Hauptschule. Ich lege also den Käseballen auf seine Decke und nehme das blaue Buch. Was da wohl drin steht? „Gedichte von mir“, sagt er. Ich schlage das Buch auf, und auf der ersten Seite steht in schöner Schrift: „Für Emma, das hübsche Täubchen, von Victor“. Also mir ist das Buch fast aus der Hand gefallen. So was Nettes! Ich glaub, ich bin rot geworden, so hab ich mich gefreut.

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Inzwischen stand ich immer noch im Schneeregen rum, hatte ihn ganz vergessen. „Warum setzt du dich nicht ein bisschen zu mir“, fragt da der Victor. „Ich hab da so nen Schemel unter meiner Karre.“. Ich sehe, ja, da ist so ein Holzschemel, und wenn ich mich nah bei Victor hinsetze, habe ich auch gleich ein Dach über dem Kopf. Die Fußgängerzone ist hier ja überdacht. Ich ziehe also den Schemel unter seiner Karre hervor und setze mich, froh, dass ich den schweren Rucksack absetzen und meine Füße ausruhen kann. Und lehne meinen Kopf an seine Karre. Da nimmt er mir meinen Hut ab, der ganz nass ist, und legt seine gesunde Hand auf mein Haar. Das war so lieb, so zärtlich, dass ich es gut haben konnte und sogar die Augen zumachte. Die Leute rannten ja so schnell, dass mich keiner hier auf dem Hocker sehen würde, dachte ich noch. Aber eigentlich war es mir auch egal. „Willst du mir eines deiner Gedichte vorlesen?“ fragte ich schließlich, obgleich ich ihn ja eigentlich was ganz anderes fragen wollte. Eigentlich wollte ich fragen, woher er meinen Namen wusste. Aber das war mir plötzlich auch egal. Und dann sagte Victor ein Gedicht. Er las es nicht aus dem Buch, er sagte es einfach so, während er seine Hand auf meinem Haar hatte. Ich glaube, er hat es grad in dem Moment gedichtet.

Wildtäubchen, mein Tamburintäubchen. Schwarz bist du und weiß, rostrot sind deine Schwingen, purpurrot dein Schnäbelchen. Wenn du rufst und ich höre dein du-du-du-du-du, geht mein Herz auf. Dann bin ich daheim in meinen Wäldern. Kleines Wildtäubchen, mein Tamburintäubchen. Ich schlage mein Tamburin, schlage meine Trommel. Ich bin daheim in meinen Wäldern. Du-du-du-du-du ruft mein Tamburintäubchen, mein süßes Wildtäubchen.    

O, es gefiel mir! Ich bat ihn, es mir noch mal zu sagen, und noch mal. Es war so ein Zauber darin. Victor ist, glaube ich, wirklich ein Zauberer. Ob alle Dichter so sind wie Victor?

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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8 Antworten zu Victor (3) und Emma

  1. juttareichelt schreibt:

    JA! Vielen Dank für die schöne Geschichte, für die Bilder – beides hat mir große Freude bereitet!

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    • gkazakou schreibt:

      Danke DIR herzlich, Jutta. Mir macht es einen Heidenspaß, diese Geschichten zu erfinden. Dies mein Talent ist erst durch deinen generator in Schwung gekommen.

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      • juttareichelt schreibt:

        Liebe Gerda, nun hätte ich fast diesen Kommentar unbeantwortet gelassen – obwohl ich mich so darüber gefreut hatte! Und verdutzt war, denn ich hatte in dir nach allem, was ich nun gelesen hatte, eine sehr praxiserprobte Geschichtenerzählerin vermutet. Freut mich umso mehr – ehrlich gesagt! Ganz herzliche Grüße!

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  2. Ach, wie wunderschön, Gerda! Deine Geschichte gefällt mir sehr und das Gedicht finde ich ganz wundervoll

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