Wie ihr gerecht werden? Sappho, der Dichterin. Für manche die erste und die größte Dichterin überhaupt. Im Altertum als zehnte Muse gerühmt. Wir aber stehen vor einem Scherbenhaufen. Denn ihre Lyrik, in der Bibliothek von Alexandria noch in neun Büchern aufbewahrt, ging mit der Zerstörung dieser großartigen Einrichtung durch die Christen zuerst, durch die Muselmanen dann verloren. Die wenigen geretteten Bruchstücke aber haben ihre Strahlkraft nicht verloren.
Eine der wenigen Strophen, die intakt überliefert wurden, zugleich die bekannteste, ist die folgende:
Δέδυκε μεν α σελάννα και
Πληιάδες· μέσαι δε
νύκτες, παρά δ‘ έρχετ‘ ώρα,
εγώ δε μόνα κατεύδω.
Wie diesen wunderbaren Vierzeiler übersetzen? In der Besprechung* eines 2013 erschienenen Buches über Sappho** sind acht deutsche Übersetzungen angeführt (siehe unten*) – und das sind bei weitem nicht alle.
Das Wesentliche fehlt in allen diesen Übersetzungen: Wenn man aufs Engste am Text bleibt, heißt er:
Versunken zwar sind Selanna (Mond) und / die Plejaden , doch Mitte / der Nächte, doch trotzdem die Stunde (Zeit) kommt / ich aber lege mich allein nieder.
„μεν – δε“, das ist „zwar – aber (doch)“.
Gleich das zweite Wort – nach dedyke = versank – ist „men“, in den folgenden drei Zeilen jeweils ergänzt um das Wörtchen „de“. Es handelt sich um eine Klammer, die „zwar – aber“ bedeutet. Eine Entgegensetzung. Zwar sind der Mond und das Siebengestirn versunken – doch… doch (dies zweite noch einmal verstärkt durch ein „παρά“ – obgleich, trotzdem) … doch. Mond und Gestirne gehen ihren erwartbaren Gang – aber – aber – aber. – Eine tiefe Verstörung ist zu spüren. – Etwas geht nicht seinen erwartbaren Gang ….
Doch was? Die Mitte der Nächte ist überschritten – Nächte im Plural. Nicht heute nur, nein, viele Nächte geschieht dies: dass Mitternacht vorbei ist und obwohl die Stunde kommt – welche?
ωρα – Stunde, auch Zeit. ώρα καλή – gute Stunde wünscht der Mann auf dem Lande dem Reisenden. Denn es gibt auch böse, schlechte Stunden, in denen Dinge geschehen, die man nicht für möglich hielt. In dem Wort ωραία – schön steckt sie auch, diese ωρα. Wenn du jung bist – schön bist – dann ist es „deine Zeit“ für die Liebe.
“ ich aber lege mich allein zum Schlafen nieder“.
Das also ist das Gedicht, das uns über die Jahrtausende hinweg verbindet mit dem Herzen der Sappho. In freierer Übertragung:
Versunken im Meer ist Selanna, und versunken sind die Plejaden. Aber ach! Wieder ging Mitternacht vorbei, und obwohl die Zeit für die Liebe kommt – doch allein lege ich mich nieder zum Schlaf.
Das „Ach“ – die persönliche Klage – gibt es nicht im Original. Dort stehen sich kommentarlos zwei Tatsachen gegenüber: der ewige Gang der Gestirne – und die Verstörung des Ich, deren Stunde gekommen ist, aber unerfüllt bleibt.
Vielleicht spürt ihr die Kraft dieser Zeilen über die Jahrtausende hinweg – trotz der unvollkommenen Übersetzung.
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Sappho lebte von 630 (ungefähr) bis 570. Sie stammte von einer vornehmen Familie aus Lesbos. Hier, so sagt der Mythos, wurde der Kopf von Orpheus angeschwemmt (die Mainaden hatten ihn abgerissen), von hier stammten andere große Dichter des Altertums, aber auch der neugriechische „Dichterfürst“ Odysseas Elytis, der 1987 den Nobelpreis erhielt. Von ihm werde ich am kommenden Sonntag berichten.
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*Jürgen Brocan, in fixpoetry (internet). Die dort angeführten Übersetzungen sind
Max Treu: „Nun ist schon der Mond versunken / und auch die Plejaden. Mitte / der Nacht, und die Zeit des Wartens / vorüber. Allein schlaf ich.“
Emil Staiger: „Der Mond und die Siebensterne / sind untergegangen. Mitter- / nacht ist und die Zeit vorüber. / Ich aber, ich liege einsam.“
Horst Rüdiger: „Versunken der Mond / Und die Plejaden; Mitte / Der Nacht; die Zeit verstreicht. / Ich aber schlafe allein.“
Dietrich Ebener: „Unter gingen der Mond schon / und die Plejaden; Mitternacht / ist es, die Stunden verrinnen, / und ich schlafe allein.“
Joachim Schickel: „Hinabgetaucht ist der Mond und / mit ihm die Plejaden; Mitte / der Nächte, vergeht die Stunde; / doch ich lieg allein danieder.“
Wolfgang Schadewaldt: „Untergegangen ist die Mondin / Und die Pleiaden. Mitternacht ist / und vorüber geht die Zeit. / Ich aber schlafe allein.“
Albert von Schirnding: „Gesunken ist Selenna, / sind die Plejaden. Mitter- / nacht, vorüber die Stunde. / Und ich schlafe allein.“
**Sappho. Und ich schlafe allein. Neu übersetzt und erklärt von Albert von Schirnding. C.H.Beck 2013.
Oh spannend. Ja mit der klammer (zwar) ist es gleich ganz anders und der Vers wird gleich eindeutiger und verständlicher.
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danke, Simmis Mama, dass du dir die Zeit genommen hast, den Vers zu verstehen. Wie geht es Simmi?
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Liebe Gerda! Vielen Dank für dies Zeilen. Ich habe gelesen, kopiert, wieder gelesen und bin beim „doch trotzdem“ hängen geblieben: die Dinge gehen für immer und ewig ihren Gang, den Gang der Gestirne, aber ich weiß darum, dass es für mich ein Ende geben wird. Und ich muss diese Erkenntnis alleine tragen.
So ist es bei mir angekommen, im Moment. So ist meine Wahrnehmung der Zeilen.Und sie bewegen mich.
Ein tolles Gedicht. Es war mir unbekannt.Danke.
Liebe Grüße Juergen
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Lieber Jürgen, ich bin froh, dass du es so verstanden hast, wie es meiner Meinung nach gemeint ist. Die meisten denken, es sei einfach nur das Wehklagen einer Frau, deren Geliebte sie versetzt hat. Begleitet von leicht hämischem Grinsen, da Sappho aus Lesbos in späteren Jahren als Inbegriff der Lesbierin galt (die Bezeichnung kommt daher).
Nachdem ich über deinen Kommentar nachgedacht habe, meine ich, dass ich die „freiere“ Übersetzung doch näher am Text hätte lassen sollen. Und zwar genau so, wie es im Original heiß: „aber obwohl die Stunde kommt“. Ich habe mich nämlich gefragt, warum Sappho hier das Präsens „kommen“ und nicht „gekommen ist“ und auch nicht das Futur „wird kommen“ benutzt. Die Stunde kommt – das ist genau das, was auch du als existentielles Lebensgefühl und Leiden des Ich angesichts des unveränderlichen Gangs der Gestirne beschreibst.
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Ja, jetzt erkenne ich es auch: Den Übersetzungen am Ende fehlt wirklich das Wesentliche. Danke für die schönen Zeilen von Sappho, Gerda, vor allem aber für deine hochinteressanten sprachlichen Ausführungen dazu.
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Danke Maren! Mir schienen alle Übersetzungen auf einem Missverständnis des Textes zu beruhen. Und es war mir ein Bedürfnis zu verstehen, was denn die tiefe Faszination dieses Gedichts ausmacht, das nach Jahrtausenden seine Wirkung nicht verloren hat.
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Die Beschreibung der menschlichen Vergänglichkeit ist größer als die Klage um eine/n Geleibte/n. Ja, so sind es Zeilen über das Menschsein, kulturübergreifend und zeitlos …
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genau! Danke Myriade, für die Bestätigung.
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mein hoch verehrter freund, der 40 jahre älter war als ich, der einst richter in der schweiz war und auch politiker, dieser mentor berichtete mir ergeben von Sappho.
und
jetzt stellst DU sie so bezaubernd ins SEIN::
-und DU kannst grieschisch ?? wow, das alt-griechisch ?
danke für diesen artikel
BIN LUISE
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Es freut mich sehr, Luise, dass ich dir Sappho erneut „ins Sein stellen“ konnte. Ja, Neugriechisch kann ich ziemlich gut, lebe schon über 30 Jahre in Griechenland. Merkwürdigerweise unterscheidet sich das sehr alte äolische Griechisch, in dem Sappho schreibt, kaum vom heutigen Griechisch. Jedenfalls trifft das für diesen Vierzeiler zu, den ich ohne weiteres verstehen konnte. Die Schwierigkeit der Übersetzung liegt in dem Fall weniger in der Sprache als im Begreifen und in der Wiedergabe. Liebe Grüße aus Athen, Gerda
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Wenn ich nur etwas mehr Zeit habe, werde ich versuchen, deinen Blog Stück für Stück rückwärts zu lesen. Ich merke wieder einmal, dass es sich lohnt.
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Danke! Aber Vorsicht, ich blogge seit dreieinhalb Jahren fast täglich, da kommt was zusammen. 😉 ich schaue bei dir immer nach, wenn ich aktuell auf ein Thema stoße.
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Da hätte ich fast Wundervolles verpaßt, liebe Gerda
Worte der sagenhaften Sappho und erklärende Worte von Dir.
Es sind Worte, die einfach klingen und Großes aussagen.
Sie muß eine sehr klar denkende Frau gewesen sein, nein, kein Wehklagen, sondern eine Aussage- Sie hat ihr Alleinesein schreibend verarbeitet.
Mit dem Lauf der Gestierne lebt sie.
Wie schrecklich, daß kaum etwas von ihrem Werk geblieben ist.
Wo Bücher verbrannt werden, brennen früher oder später auch Menschen…. Ich weiß im Moment nicht, von dem diese Worte stammen und ich habe sie auch sehr frei übernommen.
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